Es ist noch dunkel, als ich über die Dächer von Santiago auf die benachbarte Hügelkette schaue. Die Sonne geht langsam auf, aber ich fühle, es ist Herbst geworden. Es fühlt sich noch frisch an, aber auch schön kühl. Ich fühle mich genauso frisch. Das Gefühl den Weg gut geschafft zu haben, vor allem aber, nicht allein zu sein, macht wach, trotz wenigen Schlafes. Den anderen geht es sicher genauso. Was wird uns heute erwarten? Ich bin gespannt auf Santiago, die Kathedrale, die Pilgermesse, den letzten gemeinsamen Abend miteinander, die Freude diesen Tag nicht allein verbringen zu dürfen und auf Juan. Gespannt bin ich, welche Überraschung er noch für uns parat hat. Einiges wusste ich von der Vorbereitung, manches aber auch nicht. … Habe ich doch allen viel zu verdanken.
Nach dem gemeinsamen Frühstück gehen wir durch die Altstadt. Historisch chronologisch eilen wir zu den bedeutsamem Orten der Stadt, beginnend in der Franziskanerkirche, die noch eigenartig ruhig ist. Ich kann es kaum beschreiben, aber ich spüre eine unglaubliche innere Ruhe und Gelassenheit. Vielleicht gelingt deshalb auch die Zeit der Stille so gut und der Impuls in der Kirche des Pilgerbüros. Juans Führung durch die Stadt beeindruckt mich, alle anderen auch. Dominique, die wieder ganz fit ist, teilt den Eindruck mit mir.
Mittagszeit: Die Markthalle mit ihren Köstlichkeiten stärkt uns, die Jesuitenkirche erschlägt fast, und die Überraschung, Josef mit seinem Begleiter zu sehen, freut. Er hat schließlich geholfen zu übersetzen und zu organisieren, als es Dominique nicht so gut ging und sie sich hinlegen musste, um einen Virus auszukurieren.
Die Fortsetzung des Stadtweges durch Santiago startet gegen frühen Mittag. Schlendernd und scherzend, dennoch ernsthaft zu sein, ein Gefühl, dass ich selten kenne. Ja, die Stadt geht ins Herz. Und immer wieder begegnen uns neue Pilger, die die letzten Meter des französischen Jakobsweg in die Stadt hinein gehen. Was haben die wohl alles erlebt? Woher kommen sie?
Gelegentlich erschallt ein Applaus von Gruppen an die, die neu einlaufen… Ja, ich spüre dabei etwas Gänsehaut.
Wir teilen uns auf, um Besorgungen zu machen und sind an alle schon ganz gespannt auf die Führung auf das Dach der Kathedrale. Treppen, eine tiefe Decke, Vincenzo stößt sich dabei den Kopf. Naja, die Menschen damals waren kleiner und sie dachten noch nicht daran, dass einmal ein1.90 m hoher Sizillianer das Dach erklimmen wird. Doch wir trösten und pusten, beruhigen und reden gut zu. Der Schock verfliegt. Auf dem Dach wird deutlich: diese Kathedrale ist etwas besonderes! Wir hören auf gutem, wenn auch schnellem Englisch die Geschichten und Anekdoten über Kriche und Einwohner, Gebäude und Herrscher, Volk und Gesindel, während wir, wie der Wirklichkeit entrückt, es uns auf dem Dach bequem machten. Schon wieder Gänsehaut. Bis zu diesem Zeitpunkt dachte ich, dass dieses bald weggeht, und mich so schnell nichts mehr beeindrucken kann. Es tut gut, die Gruppe an meiner Seite zu haben. Ich merke, ich mag nur schweigen, aber das bitte schön nicht allein, sondern in der Gemeinschaft derer, die mir so lieb geworden sind.
19.10 Uhr . Juan drängelt. Er wartet vor der Kathedrale. Wir sollten doch zusammen reingehen, und Plätze suchen, weil sie doch voll werden wird. Der tägliche Pilgergottesdienst zieht eben viele an, zu dem, weil Freitag auch auf Kosten der Stadt Santiago das Rauchfass geschwenkt werden soll. Permanent zwitschert irgendein Smartphone von uns, wo wir denn endlich sind. Endlich, die gut 200 Stufen steigen wir nach unten. Ich bin nervös. Vor was weiß ich gar nicht so genau, aber dennoch, mein Puls sollte jetzt besser niemand messen. Hoffentlich sieht mich Tobiasnicht, denn er hat als angehender und fast fertiger Mediziner irgendwie einen Adlerblick darauf, dass es uns gut geht. Die Sorge scheint berechtigt, denn mir bleibt die Luft weg, als wir nach den letzten Stufen plötzlich in einer überfüllten Kathedrale standen, die wir bisher nur von außen kannten und so besetzt natürlich noch mehr beeindruckt. Den Apostel hatten wir zwar am Morgen schon gegrüßt, aber da kamen wir von hinten durch die heilige Pforte und verschwanden auch wieder dort. Die Kirche selbst betreten wir gerade zum ersten MalWie geht es denn nun in dem Gewühl von Sprachen und Nationen weiter? Einfach irgendwo hinsetzen? Das Konzelebrieren hatte ich mir längst abgeschminkt, ich weiß ja nicht einmal, wo die Sakristei ist, geschweige denn, wie man dann dort an den ganzen Sicherheitsleuten vorbei kommt.
Nur jetzt nicht die Gruppe verlieren…
Eigentlich hätte ich es wissen müssen: Ich hatte meine bescheidene Rechnung ohne Juan gemacht. Natürlich stand er am Treppenhaus, trotzend jeder Kontrolle und Ordneranweisung. Und jetzt kam das für unvorstellbare….
Ein junger Mann mit Security Warnweste zog das Absperrband zur Seite und ließ die Gruppe hindurch. Weg war sie. Ich konnte nur noch Francesco meinen Rucksack geben, weil ich hier warten sollte…. Da stand ich nun, während der junge Spanier energisch das Band wieder an seinen alten Platz zurückzog. Was ein Glück gab es da noch Sebastián. Wenigstens er blieb, was mir eine Ruhe und Sicherheit vermittelte. Er kann wenigstens spanisch, um nach dem Weg zu fragen. Am Arm gepackt zog uns beide Juan durch eine schier unendliche Menschenmenge nicht enden wollende Seitenschiffe in die Sakristei. Durchatmen. Ruhe. Gewand anziehen, die 8 Konzelebranten aus der halben Welt strahlen Routine aus. Sebastian wird gefragt, ob er Akolyth istund somit Kommunion austeilen kann. Da eine an hoc- Beauftragung möglich ist, wenn nicht genug Zelebranten zum Austeilen der Kommunion anwesend sind -und es waren garantiert zu wenige für die Anzahl der Messbesucher- war diese Beauftragung schnell ausgesprochen. Ich traute meinen Augen nicht, als meine kleine Pilgergruppe hinter dem abgesperrten Bereich noch im Altarraum saß. Ein herausragender Ort! Und spätestens als Tobias den Dank an den Apostel für die wunderbaren Tage zuvor vor den geschätzten 1500 Menschen vorlas, war jedem deutlich vor Augen, dass diese Erlebnisse sicherlich so nie wieder kommen und wir die Einmaligkeit diese Augenblickes nicht nur Gott, sondern auch unserem Guide zu verdanken haben. Das große Weihrauchfass am Schluss mit dem Jakobus Hymnus ließ dann doch die Tränen fließen. Auch das ist pilgern. Der wunderbare lustige Abend bleibt wohl allen lange in Erinnerung. Doch das bleibt einmal schön in Santiago….