Noch ist es dunkle Nacht und ich werde durch ein liebliches galizisch-schwyzer-dütsches Geschnatter geweckt. Auf die andere Seite drehen hat keinen Sinn, den ich stehe unter dem Bett, wo mich mein Träger seit gestern abgestellt hat. Jetzt muss ich mich erst einmal vorstellen: Ich bin der entscheidende Faktor auf der Pilgerreise meines Besitzers, seine linke Sandale. Seit heute weiß ich, dass Pilgern auch schon mitten in der Nacht losgehen kann. Als Strafe für die Erinnerungslücken von gestern? Da freue ich mich lieber über den Segen, der allen zugesprochen wird und bei dem sogar ich angefasst werde, damit mit mir gut gepilgert werden kann, heute unter dem Motto: Heil erfahren.

20161005_pilgern_jakobsweg_06Aus meiner Sicht, von ganz unten, aus der ich ja berichte, muss ich sagen: Ich bin heute mal ein ganzes Stück unbeschwert gewesen, weil mein Besitzer gefahren wurde. Ich glaube allerdings, Heil erfahren bedeutet nicht nur, das es mir gut geht, sondern ich kann auch Heil erfahren, wenn ich dazu beitrage, anderen Heil zu bringen. Ich habe Gespräche belauscht, in denen es darum ging, wer welche heile (heilige?) Momente in seinem Leben hatte. Oft war es so, dass anderen Heil bringen erfüllender war, als selbst geheilt zu werden. Und gerade dann wurde diese Situation von beiden als heilig erfahren. Vielleicht auch von den beiden Jüngern und gleichzeitig von Jesus, als sie ihn in Emmaus beim Brot brechen erkannten und er sich von ihnen erkannt erlebte. Aber ob ich als linke Sandale überhaupt solche Gedanken haben darf? Andererseits – wozu bekommen wir denn die Impulse, wenn wir nicht unseren Gedanken freien Lauf lassen dürfen?

Aber ich komme ja ganz ins Philosophieren und vergesse, dass ich die Aufgabe bekommen habe, von unserem Pilgerweg (4. Etappe) zu berichten.

Für mich ist er heute etwas kürzer als für meine Freunde, die schweren Wanderstiefel, aber mein Besitzer begleitet unsere Alibifrau Domenique, der es heute nicht so gut geht, um schon wieder 22 km zu laufen. Zum Glück organisiert Juan ein Taxi, und so erspare ich mir auch die Hälfte der heutigen Strecke von Briallos über Caldas de Reis nach Padron. Immerhin hat es heute morgen, inzwischen ist die Sonne aufgegangen, noch gereicht, die Füße in die heiße Therme zu tauchen, so dass ich nun einen frisch gewaschenen Fuß umgürte. Und zum Füllen der Wärmeflasche dient die nächste heiße Quelle. Diese Füllung reicht bis zur Kirche „Santa Maria de Carracedo“, wo wir wieder auf meine Kumpels treffen, deren Besitzer sich bereits mit Obst, Brot, Käse und Wein laben. Wurst und Schinken bekommen sie erst jetzt!

Nach einem Impuls mittels des Gedichtes: „O Seele, suche mich in dir“ von Teresa v. Avila trennen sich unsere Wege schon wieder. Irgendwann in der Lkw-Raststation Los Camioneros höre ich später, dass sich unsere Pilgergruppe weiter reduziert habe, weil Enzo statt in der Gruppe lieber mit seinem Stock pilgern will… und mein Besitzer erzählt etwas von politisch unkorrekten 10 kleinen Negerlein.

20161005_pilgern_jakobsweg_03Aber alles klärt sich auf, mein Turnschuhbruder hat es mir abends erzählt: Nach einem Abstecher in der wahrscheinlich glücklichsten Kita Spaniens, in der Enzo voller Begeisterung seinen Pilgerstab stehen ließ, kehrte er noch einmal dorthin zurück. Und dann half nur noch Handy-Ortung, damit die Gruppe sich wieder zusammenfand. Nach anstrengenden, 1000 gefühlten Kilometern durch eine wunderbare Landschaft treffen sich unsere Träger dann alle wieder im „Konvent de Herbon“, einem Franziskanerkloster, in dem die Pilger selbst entscheiden, was sie für Unterkunft und Verpflegung geben wollen.

Nach solchen, letztlich heilbringenden Erfahrungen, werde ich wieder unter’s Bett gestellt, und muss warten, was Badelatsche mir heute Nacht noch berichten wird. Das sei schön schnell gewesen – so eine spanische Messe – aber Martin habe toll konsekriert, erzählt sie mir unter dem Bett. Und dann höre ich selbst, weil von Bettruhe keine Rede mehr sein kann: Nach dem anschließenden Abendessen wird noch eine Hexenmesse – genannt Quemada – gefeiert und mit gefühlt zig PilgerInnen und Felix, dem katholischen Gastgeber und Mönch, werden unendlich gute Gespräche geführt und Mailadressen ausgetauscht, bis der letzte Messwein und diverse weitere Flüssigkeiten vernichtet werden. Antonia und unserem Francesco wird noch einmal vor Mitternacht zum Geburtstag gratuliert und endlich ist Ruhe.

Michael Scherer-Faller