Industrielle Revolution – Neubürger in Unterliederbach

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich das bis dahin von der Landwirtschaft geprägte Dorf zur Wohngemeinde für das nahe Höchst, wo 1863 die Farbwerke Meister Lucius und Brüning gegründet worden waren.

Das Leben in Unterliederbach war weniger kostspielig als in der Stadt Höchst. Neue Wohngebiete wurden ausgewiesen und es entfaltete sich eine rege Bautätigkeit. 1889 entstand wegen der großen Not an bezahlbarem Wohnraum die Siedlung „Arbeiterheim“ der Farbwerke. 1890/91 folgte die „Engelsruhe“ als Siedlungsprogramm unter dem Frankfurter Stadtplaner und Architekten Ernst May („May-Häuser“) für alle Arbeiter, die nicht bei den Farbwerken tätig waren. Der Zuzug von so vielen Menschen in das Umfeld der rasant wachsenden Farbenindustrie brachte ein bislang nicht gekanntes Problem mit sich: der Anteil der Katholiken an der Bevölkerung stieg zusehends – ohne dass sie seelsorglich betreut werden konnten. Die Neubürger wurden regelrecht als Eindringlinge betrachtet, auch der evangelische Pfarrer tat sich mit Hetzereien hervor. Es kam zu sehr unschönen Szenen wie dem Anbringen von Schildern an der Kirchentür („Maul- und Klauenseuche“) und der Beschmutzung des Kirchenraums mit Unrat, so dass zeitweilig ein Polizist zum Schutz von Kirche, Pfarrhaus und Kirchgängern abgestellt wurde.

Unterliederbach zählte zum Gebiet der Pfarrei Höchst mit ihrer sowieso räumlich viel zu kleinen Justinuskirche. Die 1863 erstmals gewünschte Errichtung einer katholischen Pfarrei in Unterliederbach konnte aus politischen Gründen während des Kulturkampfs nicht erfolgen. Als sich die Verhältnisse entspannten, schritt der Stadtpfarrer von Höchst, Emil Siering, mutig voran, indem er am 12. August 1894 einen Kirchbauverein gründete. Schon 1895 konnte das Pfarrhaus (heute Begegnungsstätte Altes Pfarrhaus) fertiggestellt werden. 1896 weihte Bischof Dr. Karl Klein die neuerbaute Pfarrkirche zu Ehren des Apostels und Evangelisten Johannes und feierte am 4. Oktober 1896 die erste Heilige Messe nach der Reformation auf Unterliederbacher Boden. Unterliederbach wird Pfarrvikarie der Pfarrei Höchst.

Um den zahlreichen, aus den ländlichen Gebieten in das städtische Umfeld ziehenden Menschen in ihren damit verbundenen Nöten entgegen zu kommen, gründeten die Dernbacher Schwestern 1909 eine Niederlassung in der Falkenstraße (heute steht hier das 1968 erbaute Gemeindehaus Gotenstraße). Eine „Kleinkinder-Verwahrschule“, die Nähschule und ambulante Krankenpflege standen nun zur Verfügung. In den folgenden Jahren blühte das Vereinsleben auf (Männerverein, Kirchenchor, Mütterverein, Elisabethenverein, Jünglingsverein, Marienbund), Gemeinde- und Volksmissionen wurden abgehalten, Messdiener ausgebildet.

Zum 1. April 1913 wurde die Pfarrvikarie St. Johannes Ap. durch den Kapitularvikar und Administrator des Bistums Limburg, Domdekan Georg Hilpisch, zur eigenständigen Pfarrei erhoben. Am 7. Mai 1913 bestätigte die Königliche Regierung durch die Abteilung für Kirchen- und Schulwesen die kirchliche Urkunde (Amtsblatt der Kgl. Regierung zu Wiesbaden Nr. 19 v. 10. Mai 1913, Ziff. 313).

Kirche St. Johannes Apostel, 1896

Kirche St. Johannes Apostel, 1896

Im Ersten Weltkrieg musste sich die Bevölkerung stark einschränken, Lebensmittel wurden knapp. Für Kriegszwecke lieferte die Pfarrei die kleine Glocke und die Prospektpfeifen der Orgel ab. 1917 wurde Unterliederbach in die Stadt Höchst eingemeindet.

Ein „katholisches Milieu“ entstand in Unterliederbach trotz allen Bemühens der Geistlichen nicht. 1922 lebten in Unterliederbach insgesamt 5.694 Bürger, unter ihnen 2.250 Katholiken. Den 318 katholischen Ehen standen 352 Mischehen gegenüber (141 mit katholischer, 211 mit nicht-katholischer Kindererziehung). Zwei Drittel der katholischen Bevölkerung „distanzierte sich vom kirchlichen Leben und den katholischen Norm- und Wertstandards“ (Hubert Wolf). Das verbleibende Drittel der Aktiven bildete ein Milieu aus, das als „ultramontan“ zu bezeichnen ist. Sorgen bereitete Pfarrer Rudolf Nolte auch, dass drei Viertel der wahlberechtigen Katholiken für die Sozialdemokraten stimmten.

Für die treuen Katholiken fand ab 1926 ein eigener Kindergottesdienst als dritter Sonntagsgottesdienst statt, ab 1929 konnte ein Kaplan angestellt werden. Das Leben aller Katholiken wurde maßgeblich durch die aufstrebenden Farbwerke bestimmt, deren soziale Verantwortung für ihre Mitarbeiter und deren Familien beispielhaft war. Noch heute gibt es viele Gemeindemitglieder, die bis 1962 im sog. Asyl (im Volksmund „Storchennest“) geboren wurden – der Wöchnerinnenstation auf dem Werksgelände, die einen ganz ausgezeichneten Ruf bei Schwangeren genoss.

Für den PGR: Dr. Barbara Wieland

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Bildnachweis: Karte: Hessisches Staatsarchiv Wiesbaden („Delineation einiger Gegendt von Höchst“. Karte der Wasserläufe und Überschwemmungsgebiete zwischen Höchst und Unterliederbach im Jahr 1723); Neubaugebiet Loreleistraße: http://www.hgv-unterliederbach.de/historische_bilder.html; Dorfkirche Unterliederbach: http://www.hgv-unterliederbach.de/ kalender_2007.html; Abbildungen des Kircheninnenraums: Bildarchiv der Pfarrei; Quellen: Pfarrarchiv Unterliederbach; Diözesanarchiv Limburg, Archiv der Hoechst AG/ HistoCom; Provinzarchiv der ADJC Dernbach. – Literatur: Festschriften der Pfarrei 1976, 1994, 1996 (dort weitere Lit.).